SPIELTRIEB
«Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen. ... Gäbe es aber Fälle, wo er diese doppelte Erfahrung zugleich machte ... wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des ändern zugleich be gründet und begrenzt, und wo jeder ein zelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, dass der andere tätig ist, ... so würden sie einen neuen Trieb in ihm aufwecken ... den Spieltrieb.»
F.Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Eine anthroposophische Architektur gibt es nicht. Es gibt nur eine Architektur: Sie ändert sich nach Ort, Zeit und Aufgabenstellung, aber immer setzt sie sich zusammen aus Technik, Funktion und Form.
Die Technik darf alle vorhandenen Gegebenheiten umfassen: also nicht nur die Materialien und das konstruktive Know-how, sondern auch die fördernden und hemmenden sozialen und administrativen Rahmenbedingungen; sogar die Gegebenheiten des Geländes.
Die Funktion definiert die gewünschten Anforderungen. Dank Häring ist der Neufertsche Funktionsbegriff erweitert auf psychologische, vielleicht auch geistige Inhalte. Als ein - in der Nachkriegszeit verschwiegener - Aspekt dieser Auffassung zählt die Erfüllung idealer weltanschaulicher Wünsche. Dieser bricht hemmungslos hervor in der amerikani- schen Marginalarchitektur Ende der 60er Jahre, wo programmatisch ungenau, zufällig und bunt, natürlich, energiesparend und müllhaft gebaut wurde, um gegen Rigorosität, Entfremdung und Verschwendung zu protestieren. Das auffallende an Drop City waren ja nicht die neuen Dome-Formen oderdiegelassene Buntheit, sondern die wertkritischen Haltungen, die dahintersteckten. Ebenso stark wurde das Seagram Building ein Stück Weltanschauung. Der massive Nordwandstreifen ist durch falsche Fenstersprossen unterteilt. Es gefiel Mies nicht - so heisst es -, dass der Curtainwall unterbrochen wurde.
Falls man als Funktion sowohl die praktischen Forderungen, die selbstverständlich sind (Kochen, Waschen...), als auch diejenigen, die einem nur (unbewusst) «gefallen» oder die man für richtig oder notwendig hält, begreift, entsteht die Frage nach der eigentlichen und umfassenden Notwendigkeit. Dies ist sozusagen die gegenwärtige Kulturfrage, vor welcher die Postmoderne haltmacht. Denn wir handeln und entscheiden nach Zweck und Traum. Dies gilt selbstverstandhch auch fürNeufert und Mies, nur hatten diese beiden Herren sehr sachliche Traume, Angenommen, dass nun die künstlensche Form dort entstünde, wo sich die beiden Ebenen der Funktion mit der Techmik beruhren, dann wäre ungefähr der Punkt erreicht, worum wir uns bemuhen Begabte Architekten haben begabte Theorien erzeugt.
Aber hat in moderner Zeit je eine Theorie begabte Architektur erzeugt? Venturis Beispiel gilt nur auf den ersten Satz. Steiner lieferte keine Architektur Weltanschauungslehre - hier: eine Funktionslehre.
Seine Entwürfe deuten auf ein tiefgehendes Verständnis für den Zustand unserer Kultur, obwohl die einzelnen Bauten - besonders in der Detaillierung ziemliche Schwächen aufweisen können (verständlicherweise!). Das einzige, was er direkt zum Thema Form geäussert hat, ist das vielzitierte «Man frage sich, was geschieht», und das ist eben diese Beispiel nie gesagt, man solle die Bauten immer mit schrägen Ecken, Metamorphosen und traurigen Motiven vollkomponieren.
Die Vertiefung und Inspiration, die man als Architekt durch die Anthroposophie gewinnen kann, äussert sich nicht in «anthroposophischen» Formen sondern in gewissen Fragestellungen, die unbelastete Formen ermöglichen.
Hieraus können in keinem Fall Stil- nachahmungen kommen - auch nicht goetheanumhafte.
Das ist eine intime Sache - keine Wissenschaft, keine Geisteswissenschaft, nicht eine Frage der Symbole oder Allegorien und ganz bestimmt kein ästhetisches Regelwerk ... sondern ein Formenspiel das dann entsteht, wenn der Architekt seine Fragen oder Anforderungen oder gar seine anthroposophische Weltauffassung den technischen und ökonomischen Realitäten gegenüberstellt und dann im Sinne Schillers damit «spielt».
Espen Tharaldsen