ÜBER DIE ARBEIDSGRUPPE HUS
Als wir 1974 die Arbeitsgruppe HUS gründeten, interessierten wir uns für Steiners soziale Dreigliederung ebenso wie für Architektur. HUS (= „Haus“) sollte nicht nur ein Atelier für Baukunst, sondern auch eine Werkstatt für neue Kultur sein. Gewiss, das Bauen von Häusern sollte unsere Hauptbeschäftigung werden, denn Gebäude bilden die Mitte zwischen dem persönlichen Leben und der Welt: klein genug, um völlig von uns kontrolliert werden zu können, groß genug, um ein Teil der Politik zu sein.
Der Name Arbeitsgruppe HUS geht auf die norwegische Adaption des Wortes Bauhaus zurück. Er hat etwas von mittelalterlicher Kathedrale, ist aber auch eine Würdigung von Walter Gropius und dessen Bauhaus, das 1919 in eben diesem Geist gegründet wurde. Im selben Jahr gründete Steiner auch die berühmte Waldorfschule, die ihrerseits dem Wunsch entsprungen war, die Gesellschaft gemäß der Idee der Dreigliederung zu verändern. Angesichts dieser Vorbilder mussten wir also einen Namen finden, der nicht nur den akademischen Aspekt umfasste. Wir vermieden das Wort Architektur, da das Haus als Aufgabe Mitarbeiter aller Fächer und Tätigkeitsbereiche erforderte. Wir träumten sogar davon, einen Schriftsteller und einen Goldschmied, die wir kannten, in unser Team einzuverleiben. So dachten wir jedenfalls damals, vor fast vierzig Jahren. Ein schwerfälliger und umständlicher Name, könnte man meinen.
Viele Vorbilder
Zunächst waren wir an zwei Fronten gefordert. Auf der einen Seite hatten wir die viereckigen Kästen. An der Architekturhochschule hatten wir ja gelernt, dass Architektur wissenschaftlich zu sein hatte. Allmählich begriffen wir, dass wissenschaftliche Architektur viereckige Kästen bedeutete. Auf der anderen Seite hatten wir die deutsche anthroposophische Architektur. Die rebellierte zwar gegen alles Viereckige, war aber ihrerseits aus irgendeinem Grund ziemlich gleichartig. So hatten wir einerseits die Kästen, die einander völlig glichen, und andererseits die deutschen Waldorfschulen, die untereinander auch sehr ähnlich waren.1 Das war uns unbegreiflich. Wir studierten ja nicht nur Steiner, sondern auch Hugo Häring und dessen Leistungserfüllungsform. Die appellierte an vollständige Freiheit – genau das, wonach wir suchten. Aber wir bewunderten auch Gaudí. Wochenlang pilgerten wir nach Barcelona und saßen andächtig in seiner Krypta in Santa Coloma. Ja, selbst Corbusier, der so verrückt war, ganze Städte auszuradieren und durch Wohnmaschinen zu ersetzen, konnte uns in Feuer und Flamme versetzen, weil er Architektur so virtuos als politisches Instrument beherrschte. Und dann Mies van der Rohe. Ihn verehrten wir wegen seiner Strenge und Reinheit.
Obwohl wir von Steiners Menschenbild ausgingen, hatten wir doch rasch eine üppige Heldengalerie beisammen; hätte es Gehry und Calatrava damals schon gegeben, wären sie dort garantiert auch aufgenommen worden. Auf diese Art versuchten wir, auf breiter Front eine Vorgehensweise für den Bau von Waldorfschulen und -kindergärten zu entwickeln.
Öffentlichkeiten
Innerhalb dieser Schulbewegung stießen wir auf Bauherren, wie man sie heute selten trifft, Menschen fast völlig ohne Kapital, aber mit großer Entschlossenheit und viel Begeisterung. Es dauerte dann auch nicht lange, ehe wir Gegenstand der öffentlichen Debatte wurden. Zeitungen, Fachblätter und Fernsehen klopften an – sowohl aus Norwegen als auch aus anderen Ländern. Ein Höhepunkt traf 1993 ein, als das norwegische Architekturmuseum in neue Räume einzog. Zur Eröffnungsausstellung hatte man sechs Kategorien von Neubauten in Norwegen ausgewählt, darunter Bürogebäude, Bahnhöfe und Schulen. Unser neuestes Gebäude, die Waldorfschule in Stavanger (1989), wurde vom Museum zum Repräsentanten aller Schulen des Landes erkoren – und dabei gibt es in Norwegen immerhin ein staatliches Schulsystem mit mehr als 3 000 öffentlichen Schulen, denen etwa dreißig Waldorfschulen gegenüberstehen.
Form und Technik
Das war ein Durchbruch für unsere Versuche. Aber wir hatten gleichzeitig entdeckt, dass Architektur als Kunst nicht nur eine Frage der Form ist, sondern sich ebenso sehr um Materialien und technische Systeme dreht. Als wir 1985 das Schulprojekt in Stavanger begannen, machten wir uns an ein Ventilationssystem, das sich dynamische Isolation nannte und noch so ungetestet war, dass man es bis dahin nur für Schweineställe zu nutzen gewagt hatte. Das Prinzip läuft darauf hinaus, dass die gesamte Wand „atmet“. Gemeinsam mit der Waldorfschule, der alle Ehre gebührt, alliierten wir uns mit den Architekten von Gaia und den führenden Forschungsstätten des Landes und forschten zwei Jahre lang – ehe wir aufgeben mussten. Technisch wurde es ganz einfach zu anspruchsvoll, unter anderem weil der Wind in Stavanger gleichzeitig von überall weht, während er theoretisch nur von einer Seite her kommen sollte.
Wir machten die Erfahrung, wie schwierig es war, als Architekten Produktentwicklung zu betreiben. Nun änderten wir die Strategie und benutzten umweltmäßig gute, aber besser ausprobierte Techniken.
Sowohl die Waldorfschule in Skjold (1999) als auch der Kindergarten Rosenhagen (2005) verfügen über vorgewärmte Luft in unterirdischen Schächten als Grundlage für das Innenklima. Sieht man sich die Bilder dieser beiden Gebäude an, erscheinen die Lüftungskästen wie Schornsteine. Bei späteren Projekten haben wir dies als Standardlösung benutzt, zuletzt im Konferenzzentrum in Järna (Projekt 2011).
Gesundes Material
Hinsichtlich des Materials ging es einfacher. So weit wie möglich verwendeten wir natürliche Oberflächen, was bereits bei den Waldorfschulen die Grundhaltung war.
Ende der achtziger Jahre schlugen die norwegischen Tageszeitungen Alarm wegen der so genannten „kranken Häuser“. Das Innenklima in neuen Gebäuden führte zu Gesundheitsproblemen, deren Ursache in erster Linie bei allen neumodischen Materialien mit giftigen Zusätzen und Weichmachern gesehen wurden. Bonytt, Norwegens führende Zeitschrift für Architektur und Garten, begann eine Artikelserie über „gesunde Wohnungen“ mit Fugleklo, einem Einfamilienhaus, das wir 1988 entworfen hatten. Es wurde nicht wegen der Tatsache hervorgehoben, dass es im selben Jahr von Norwegens größter Zeitung zu einem der originellsten Häuser des Landes erkoren worden war, sondern weil die Materialhantierung so gesund war. Das überraschte uns wirklich – wir hatten doch lediglich nach Waldorfweise gebaut.
Seit Jahrzehnten waren die Waldorfschulen dafür bekannt, menschlich und gesund zu bauen. Die Klassenzimmer wurden mit giftfreien Farben lasiert; stets gab man Glühbirnen den Vorzug gegenüber Neonröhren. Heute bilden die Schulen keine Sonderklasse mehr. Die Entwicklung der übrigen Gesellschaft hat den Vorsprung längst eingeholt und ist häufig sogar viel weiter. Vor allem seit dem Jahrtausendwechsel ist diese Veränderung bemerkbar. Was zunächst die Bautechnik betraf, gilt mehr noch für die Formgebung. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Hier gab es ein Rätsel, das wir zu lösen versuchten.
Die Sternstunde der Waldorfschularchitektur
Was wir etwas ungenau anthroposophische Architektur nennen können, erlebte in den siebziger und achtziger Jahren eine Glanzperiode. Es war die Zeit von Protestbewegungen und neuer Geistigkeit. Daher wurden auch viele der öffentlichen Initiativen der Anthroposophie so beliebt. Im Nachhinein lässt sich erkennen, dass dies zu Missverständnissen führte. Man könnte geneigt sein zu glauben, dass Steiners Ideen zur Kunst ebenfalls auf dem Vormarsch waren. Tatsächlich aber hatte sich jegliche internationale Architektur in Bewegung gesetzt. Man verlies die Langeweile und suchte das Lebhafte und Komplizierte. Unterwegs wurde der anthroposophische Bereich berührt und erreichte kurzzeitlich einen gewissen Status. Aber die Mainstream-Architektur ging weiter und lies die anthroposophische hinter sich, begleitet von lautem akademischen Gebell. Das war die Stunde des Postmodernismus und des Dekonstruktivismus. Die rationelle Periode der viereckigen Kästen war endgültig vorbei. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden die Architekturideale der Welt auf den Kopf gestellt. Aber die Waldorfschularchitektur lebte überraschenderweise fast unbeeinflusst bis zum Jahrtausendwechsel weiter, sowohl bezüglich der Formgebung als auch hinsichtlich der Technologie. Als käme es nicht darauf an, sich zu erneuern. Besonders merkwürdig war es, dass die Eigenart der jeweiligen Umgebung so wenig in den Gebäudeformen zum Ausdruck kam. Als 1982 zum Beispiel das Standardwerk zur Waldorfarchitektur erschien, Die Waldorfschule baut von Rex Raab und Arne Klingborg, stellten wir erstaunt fest, dass eine Waldorfschule in Peru aussah, als hätte sie ebenso gut in Deutschland stehen können. Schon damals fanden wir das eigenartig; wir wollten in Norwegen Schulen bauen, die norwegisch und nicht deutsch aussahen. Und in welcher Beziehung standen diese Tatsachen zu den grundlegenden Gedanken der Waldorfschule? Wir wollten herausfinden, was der Ästhetik Steiners zugrunde lag. Gab es dort etwas, das der Anpassung von Waldorfgebäuden an örtliche Gegebenheiten und zeitliche Verhältnisse im Wege stand?
2010 veröffentlichte Tharaldsen das Buch Die Verwandlung des Alltags, mit dem Untertitel Rudolf Steiners Ästhetik. Hier wird genau diese Frage behandelt. Das Buch wird 2012 in deutscher Übersetzung im Verlag Freies Geistesleben erscheinen.
Steiners Kunstanschauung in Verwandlung
In dem Buch wird dargestellt, dass Steiners Kunstanschauung eine Entwicklung vollzogen hat. Seine frühen Gedanken zur Ästhetik waren Bestandteil des Ideals, bildende Kunst – und damit auch Architektur – als etwas Urbildliches zu betrachten: eben unbeeinflusst von Zeit und Raum. Es scheint, als habe dieses frühe Ideal seine Spuren in der Geschichte der Waldorfgebäude hinterlassen. Vielleicht ist es dadurch zu dem Gefühl gekommen, dass Alleingänge gut seien, dass es ein Vorteil sei, wenn diese Art von Architektur eine eigene unveränderliche Nische bildet, so unabhängig wie möglich von der Umgebung, und dass diese Schule am besten nur auf das Innere ausgerichtet ist.
Im späteren Verlauf seines Lebens demonstriert Steiner jedoch, wie die Idee des „Unbeeinflussten“ einem Denken weicht, bei dem sich die Formgebung aus einem Zusammenspiel mit der Umgebung ergibt und sowohl dem Ort als auch der Zeit angepasst wird. Das Buch weis darauf hin, wie auffallend wenig diese Veränderung im Nachhinein innerhalb der Tradition der Waldorfarchitektur bemerkt und beschrieben worden ist. Dabei wäre so eine Schilderung durchaus möglich und vor allem notwendig, falls die Ideen, die Steiner zugeschrieben werden, heute aktuell sein sollen. Und das sind sie, da in seinem umfassenden Menschenbild, nicht zuletzt in der Erkenntnis von Reinkarnation, Karma und Freiheit, neue Möglichkeiten liegen, die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Denn eine solche Anschauung bildet eine einheitliche Weltsicht, bei der zwischen den Dingen um uns und dem, was in uns lebt, eine Ebenbürtigkeit vorliegt.
Steiner liefert auch originelle Beiträge zu anderen Elementen innerhalb der Architektur: der Metamorphosengedanke, die transparente Wand, Integration der Kunstarten und anderes. Aber gerade hier, in der einheitlichen Weltsicht, wo Außen und Innen gemeinsam betrachtet wird, wo Makrokosmos und Mikrokosmos verwoben werden – gerade hier ist er einzigartig.
Mit dieser Anschauung wird die Grenze dessen überschritten, was wir normalerweise Kunst oder Architektur nennen, denn in diesem Licht wird die globale Umweltkrise auf ungewohnte Art existenziell. Hier fließen nämlich Luft und Wälder der Erde, alle Städte und Menschen und ich selbst mit meinen Träumen zu einer Einheit zusammen und werden unteilbar. Die sagenumwobene Lebensregel, sich selbst stets in Verwandlung zu befinden, wird dann ebenso zur Forderung, auch die Welt zu verändern.
Mit der Veröffentlichung dieses kleinen Buchs unter der Regie der Arbeitsgruppe HUS sind wir wieder dort angelangt, wo wir begonnen haben, wo Architektur als Kulturerneuerung betrachtet wurde. Diese Erneuerung wurde allmählich erweitert: nicht mehr lediglich Design, sondern auch Engagement für eine tragfähige Entwicklung. Von dort führt der Weg ins Politische – und damit wieder zur Dreigliederung.
Espen Tharaldsen